Erschreckende Erkenntnisse zur Sicherheit der europäischen Kernkraftwerke haben die Süddeutsche Zeitung und der WDR aufgedeckt. Die Ergebnisse sind im höchsten Maße alarmierend und eigentlich unentschuldbar. Um es einfach zu sagen: Die Reaktordruckbehälter, als jenes Teil eines Atomkraftwerks wo „die Magie“ passiert und die Strahlung jenseits von Gut und Böse ist, sind spröde. Das heißt, sie haben kleine Risse, teils durch Baufehler, teils durch Ermüdung. Das genaue Ausmaß kennt, wenn man alle öffentlichen Akten durchsieht, im Grunde kein Mensch.
Was wird getan?
Statt diese teils vierzig Jahre alten Schrotthaufen stillzulegen wird das Notkühlwasser, also die allerletzte Rettungsstufe vor einem Super-GAU à la Tschernobyl und Fukushima, vorgewärmt. Die Betreiber haben nämlich die berechtigte Sorge, dass kaltes Notkühlwasser ihre spröden Reaktordruckbehälter zum Bersten bringen. Dann würde aus dem Notkühlwasser durch den entstehenden Temperaturunterschied eine Sprengflüssigkeit. Binnen Sekunden könnte die gesamte Anlage in die Luft fliegen. Und das alles mitten im extrem dicht besiedelten Westeuropa, wo der Wind die meiste Radioaktivität nicht durch eine glückliche Fügung auf das Meer tragen würde.
Japan hatte ein Riesenglück
Die Japaner hatten im Fall Fukushima nämlich sehr viel mehr Glück als Verstand. Genau zu jenem Zeitpunkt, zu dem die AKWs in Fukushima hochgingen, blies der Wind in Richtung Pazifik, weg vom Land. Die größte Menge der freigesetzten Radioaktivität ging also niemals über Japan nieder. Wäre der Wind damals aus Norden gekommen, so wäre die 30 Millionen Einwohner zählende Metropolregion Tokio heute eine Geisterstadt und Japan – wie wir es kennen – hätte de facto aufgehört zu existieren.
Und in Europa?
Auf dem alten Kontinent würde jeder GAU zur Verseuchung von Regionen in der Größenordnung der Fläche von Österreich führen, wenn nicht sogar mehr. Als diese heutigen Schrottanlagen gebaut wurden, war nie geplant, dass das Kühlwasser vorgewärmt werden muss. Es wird also nachträglich in gröbster Weise an der Auslegung uralter Anlagen herumgepfuscht. Im Grunde müsste man ihnen sofort die Betriebserlaubnis entziehen, da das Design die Notwendigkeit einer Erwärmung des Notkühlwassers nicht vorsieht. Deswegen verstecken sich einige der Betreiber auch hinter der fadenscheinigen Ausrede, sie täten das, um die Anlagen zu schonen. Diese Erklärung ist komplett lächerlich, weil das Notkühlwasser – wie der Name schon sagt – im Normalbetrieb niemals zum Einsatz kommen sollte. Dieses als Argument zu bringen, ist eine Beleidigung der Intelligenz der Menschen in Europa.
Strahlung schädigt den Stahl
"Je länger Stahl mit Neutronen bestrahlt wird, desto spröder wird er", sagt dazu Michael Sailer, Kernkraftfachmann beim Ökoinstitut. Sailer ist auch Mitglied der deutschen „Reaktorsicherheitskommission“. Schon im Februar 2016 gab es Info-Leaks, wonach in einem Atomkraftwerk in Belgien das Notkühlwasser vorgeheizt werden muss, weil der Druckbehälter unzählige feine Risse hat. Jeder nicht durch Gier und Ignoranz getriebene Wissenschaftler weiß: das Prozedere des Anwärmens des Notkühlwassers heißt nichts anderes, als "dass womöglich schon große Risse gefunden wurden oder dass man sich nicht sicher ist, ob die Rissbildung größer ist als befürchtet", so Frau Ilse Tweer vom Netzwerk INRAG.
Atomexperten raten zur Stilllegung
Der Experte Wolfgang Renneberg war bis zum Jahr 2009 „Leiter der Abteilung Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium und sieht laut SZ und WDR die Lage mit Sorge. Dahingestellt ist zudem, ob Reaktorkerne, die erwärmtes Notkühlwasser verwenden, im Krisenfall genügend zu kühlen in der Lage sind. "Aus sicherheitstechnischen Gesichtspunkten kann ich so eine Anlage nicht betreiben", zitieren SZ und WDR Manfred Mertins, ehemals Fachmann für die „Gesellschaft für Reaktorsicherheit“. Und doch laufen diese Totalschäden aus dem Technikmuseum weiter. Unfassbar, aber angesichts der akademischen Verhältnisse in Deutschland auch kein Wunder.